Jana stapfte mit Gummistiefeln über die staubtrockene Straße und klingelte. Es dauerte fast eine Minute, bis eine Antwort aus dem Lautsprecher ertönte.
“Ja?”
“Hier ist die Feuerwehr. Dieses Gelände wird wegen Hochwassergefahr evakuiert. Haben Sie denn die Warnung nicht bekommen?”
“Doch. Aber ich habe gerade zu tun. Lassen Sie mich einfach hier.”
Jana hätte am liebsten ihren Kopf an der Tür eingeschlagen. “Ich kann Sie nicht hier lassen. Ihre Wohnung steht nicht auf der Ausnahmeliste. Haben Sie denn -“
Jana brach ab. Das Knacken in der Leitung war eindeutig. Sie redete buchstäblich gegen eine Wand.
Sie wandte sich um. Tobias stand auf der anderen Seite der Straße und er wusste sofort, was los war. Seine Augen fokussierten auf die Anzeige seiner Augmented Reality Brille, während er in sein Headset sprach. Kurz darauf meldete sich Janas Knopf im Ohr.
“Jana?”
“Ja?”
“Kannst du ins Lagezentrum kommen?”
Jana sah zu Tobias auf, der vor seiner Brille gestikulierte, und fühlte sich wie eine Verräterin, als sie zustimmte. “Ich bin gleich da.”
Sie stapfte zurück zum Einsatzfahrzeug und wechselte ihre Gummistiefel gegen Turnschuhe. Kaum war sie fertig, bog Tobias um die Ecke.
“Felix kommt mit seinem Trupp als Verstärkung. Wir sollen eine Rettung -“ Er hielt inne, als er die Schuhe bemerkte.
“Sorry”, sagte Jana. “Ich soll zum Lagezentrum.”
Tobias brachte tatsächlich ein Lächeln zustande. “Glück für dich. Erzähl ihnen mal was von Akzeptanz.”
Jana verzog das Gesicht und klopfte ihm auf die Schulter. “Geht klar. Nicht mehr lange, dann ist es vorbei.”
Damit ließ sie ihn stehen und eilte die Straße entlang. Es war ein grauer Tag, der Regen verhieß, aber das rote Warnlicht der smarten Laternen tauchte die Stadt seit fast vier Stunden in eine Art diesigen Sonnenuntergang. Die meisten Lichter waren gedimmt, die Ampeln ausgeschaltet und der Verkehr bestand hauptsächlich aus Fahrrädern und Cubicles-on-Wheels. Die elektrischen Miniautos besaßen inzwischen auch einen Anschluss an die Notfallstromversorgung, um eine Alternative zu den Shuttleservices der Busse zu bieten, solange der Verkehr eingeschränkt war. Die Verfügbarkeit von Strom während der Krise war zwar immer noch eingeschränkt, aber die Möglichkeiten wurden ständig erweitert.
Neben der Bikesharing-Station stand strategisch günstig eine der vielen modernisierten Litfaßsäulen, die dazu dienten, die gesamte Bevölkerung während einer Krise zu informieren. Sie waren vor allem dazu gedacht, vulnerable Gruppen zu erreichen, wurden aber längst auch außerhalb von Krisen verwendet und dienten jedem, der an ihnen vorbeikam. Auch Jana warf einen Blick darauf, ehe sie ein Fahrrad aufschloss. Die Informationen waren noch dieselben wie zuvor: Der Hinweis zum Stromausfall, die Evakuierungsanweisungen wegen der Überschwemmungsgefahr und die allgemeinen Informationen zu verfügbaren Fortbewegungsmitteln und Hilfestellen. Es gab auch eine Beschwerderufnummer, die bei einigen früheren Versuchen zusammengebrochen war, weil es zu viele Beschwerden gegeben hatte. Die Wahrnehmung von Krisen war damals vor allem mit Ungewissheit und Angst verbunden gewesen. Das hatte sich geändert, seit die Krisenkommunikation auf Kooperation und Befähigung setzte.
Jana schwang sich auf das Fahrrad und radelte die kurze Strecke zum Lagezentrum. Die Bewegung tat gut und sie musste sich eingestehen, dass es dieses Mal eigentlich richtig gut gelaufen war – sofern man bei Krisen von gut sprechen konnte. Natürlich hatten sie mit der Akzeptanz mancher Menschen zu kämpfen, aber das waren Einzelfälle. Die meisten der Evakuierten hatten über Anfragen in der Nachbarschaftsapp innerhalb einer Stunde eine Art Partyzelt errichtet und Jana und Tobias Glühwein eingeschenkt, als sie für eine Lagebesprechung bei ihnen vorbeigeschaut hatten. Natürlich alkoholfrei, sie waren schließlich im Dienst. Außerdem waren Schulklassen an der Versorgung beteiligt, weil die Kinder die Hilfeanfragen in der App schon vor Jahren in eine Art spielerischen Wettbewerb übersetzt hatten. Kaum wurde eine Anfrage gepostet, ob jemand frisches Wasser hätte, antwortete sofort ein Dutzend Kinder und präsentierte den Hilfesuchenden nach wenigen Minuten stolz den eigenen Vorrat.
Warum also jetzt dieser Rückruf zum Lagezentrum? Gab es ein Problem, von dem sie nichts wusste?
Jana stellte das Fahrrad ab, ging an dem Informationsdisplay außerhalb des Lagezentrums vorbei, das die Informationen der Litfaßsäulen kopierte, und betrat wenig später den Raum, der das physische Koordinationszentrum der Krisenbewältigung war. Innerhalb des Stabes betreuten zwei Personen die Computer, die die Daten der gesamten Stadt über ihr Sensornetz erhoben, analysierten und alles technisch Machbare zur Lösung der Krise beisteuerten. Computer steuerten die Drohnen, die die Kommunikation aufrechterhielten und einen Lagebericht zurücksandten, unterstützt von den Roboter-Scouts am Boden. Computer meldeten Problemstellen, an denen THW, Feuerwehr oder Polizei gebraucht wurden, und sie optimierten die Verteilung der Ressourcen. Mit ihrer Hilfe gelang es, inmitten der Informationsflut einer Krise den Überblick zu behalten und vor allen die wichtigen von den unwichtigen Informationen zu trennen.
Gerrit und Julia sahen auf und winkten ihr zu. Gerrit saß vor den Bildschirmen, die die Analysen und Entscheidungen ausgaben. Julia stand an dem Tisch, auf dem das Versorgungsnetz der ganzen Stadt zu sehen war.
Jana trat zu ihr und überflog die Anzeige. Für gewöhnlich war das Versorgungsnetz ein Meer aus grünen Punkten mit einzelnen roten, orangefarbenen oder gelben Punkten, wenn es zu lokalen Ausfällen kam. Jetzt war es ein Flickenteppich aus grünen, gelben, orangefarbenen und roten Punkten.
Jana legte den Kopf schief. “Im Norden wurde das Wasser abgedreht?”
Sie hatte die Zeit seit der Evakuierung im Süden der Stadt verbracht, wo diese Warnung nicht angekommen war. Das erklärte allerdings einige der Anfragen nach frischem Wasser.
Julia nickte. “Seit einer halben Stunde.”
“Vermutlich denken sie, das passt zu der Überschwemmung”, kam es von Gerrit.
Jana zuckte mit den Schultern. “So falsch ist das nicht.”
Sie wollte gerade fragen, warum die beiden sie gerufen hatten, als Sven, der Leiter des Kommandostabes, zur Tür hereinkam. Beinahe zum selben Zeitpunkt leuchtete Janas Smartwatch auf und Gerrit lehnte sich mit einem Seufzer zurück.
“Das wars.”
Jana warf einen Blick auf ihre Smartwatch. Per Cell Broadcast war soeben die Entwarnung eingegangen. Sie dachte an Tobias. Wenn Felix und die anderen sich nicht allzu sehr beeilt hatten, war ihnen die letzte Rettungssimulation für heute erspart geblieben.
Sie sah hinab auf das Versorgungsnetz. Noch zeigte es im Bereich der Wasserversorgung eine Menge roter Punkte und die Stromversorgung bestand nur dort aus grünen Punkten, wo die eHubs – energieautarke Häuser deren Konzept vor Jahren aus einem Forschungsprojekt hervorgegangen war – ihren Strom in das Netz speisten und die gelben Punkte mit Strom versorgten. Die orangefarbenen Gebäude liefen mit Eigenstrom oder Notstromversorgung weiter. Ein einziger roter Punkt war besorgniserregend. Ein Haus hatte gar keinen Strom.
Julia bemerkte Janas Blick und winkte ab. “Das ist ein Anzeigefehler. Die haben seit kurzem Eigenstromversorgung.”
Noch während sie sprach, verwandelten sich alle Farben schlagartig in grün.
Jana nickte und sah zu Sven hinüber, der beim Technischen Hilfswerk arbeitete. “Ihr braucht uns für die Analyse?”
“Was denkst du denn?” Gerrit schwenkte in seinem Stuhl herum und grinste. “Die anderen kommen gleich. Dann ist hier endlich auch was los. Erst recht, wenn nachher noch die Bürgermeisterin kommt, um unsere Arbeit zu beurteilen.”
Jana nickte und für einen flüchtigen Moment wünschte sie sich, sie wäre bei der Rettungssimulation geblieben. Aber dann sagte sie sich, dass sie nicht alleine war.
Während sie auf die Rückmeldung der Beschwerdestelle und die anderen Mitglieder des Krisenstabs warteten, erbot Gerrit sich, ihnen allen einen Tee zu kochen. Jana sandte hastig eine Bitte an alle, ihr das Feedback für den heutigen Tag weiterzuleiten. Der Computer traf eine Zufallsauswahl für die Fachberater, die an der Analyse teilnahmen, und sie war zum ersten Mal dabei. Aber sie würde vorbereitet sein.
Die Lernphase war die wichtigste Phase des Tages. Hier saßen alle beisammen, mit den Ergebnissen und Verbesserungsvorschlägen des Computers, und besprachen, was sie beim nächsten Mal verbessern konnten, was funktioniert und was nicht funktioniert hatte. Und so lernten Technik, Einsatzkräfte und Bevölkerung gemeinsam, was die beste Reaktion auf eine Krise und wie sie optimal zu bewältigen war, sodass sie beim nächsten Mal oder im Ernstfall ein kleineres Problem darstellte. Beseitigen konnten sie die Probleme von Krisen nicht. Aber sie konnten lernen, ihnen ohne Angst zu begegnen. Das war es, was sie an diesem Tag taten, der damals in 2020 als Warntag angefangen hatte und so fürchterlich schiefgelaufen war.
Janas Smartwatch leuchtete auf. Tobias lud sie zu einer Party mit den Evakuierten ein, sobald sie mit der Analyse fertig waren. Jana schickte ihm ein Thumbs-Up. Der Mobilfunk funktionierte offenbar wieder für private Nachrichten. Die Normalität war zurückgekehrt. Die Straßenlaternen leuchteten weiß und die letzte Nachricht des Cell Broadcasts, die auf die Litfaßsäulen übertragen wurde, lautete: “Vielen Dank für die Kooperation beim diesjährigen Krisenübungstag.”

von Annemarie Mattmann für LOEWE emergenCITY